Digitales Selbst – Personale Identität im Zeitalter des Internet

WestEnd
Neue Zeitschrift für Sozialforschung

Jg. 7, Heft 2/2010
ISSN 1860-2177
für 10,- Euro
im Buchhandel erhältlich

Die Frage nach dem digitalen Selbst und der Bedeutung des Internets für unsere personale Identität beschäftigt uns schon länger. Vor gut eineinhalb Jahren haben wir dazu einen Workshop auf dem Kongress der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Genf veranstaltet, jetzt ist ein Schwerpunkt in der Zeitschrift WestEnd zu diesem Thema erschienen, den Olivier Voirol und ich herausgegeben haben.

Sherry Turkle – Computerspiele als evokative Objekte

Das Thema der Identität hat die intellektuelle Debatte um das neue Medium Internet schon fast seit ihren Anfängen begleitet. Zwei klassische Studien dazu hat Sherry Turkle (MIT, Cambridge) veröffentlicht: „The Second Self: Computers and the Human Spirit“ von 1984 und „Life on the Screen: Identity in the Age of the Internet“ gut zehn Jahre später (beide bei Simon and Schuster erschienen). Wir freuen uns sehr, dass wir Sherry Turkle auch für einen Beitrag in diesem Schwerpunktheft gewinnen konnten. Hier setzt sie sich mit den simulierten Welten der Computerspiele im Netz auseinander. Sie beobachtet, wie wir hier auf Wesen treffen, die neue Fragen über uns selbst, unser Verhältnis zu technischen Objekten sowie die Grenzen und Übergänge zwischen der belebten und der unbelebten Welt aufwerfen.

Vaios Karavas – Ein neues Computer-Grundrecht?

Ganz ähnlich wie Sherry Turkle geht auch Vaios Karavas (Uni Luzern) in seinem Beitrag davon aus, dass die Grenzen zwischen dem Subjekt und den technischen Objekten zunehmend durchlässiger werden und sich sogar tendenziell verwischen. Daraus ergibt sich die Frage, was dies für das verfassungsmäßige Grundrecht auf Persönlichkeitsschutz bedeutet. Karavas sieht hier ein neues Grundrecht im Entstehen, das nicht mehr die Person allein, sondern die »hybriden Assoziationen« (Bruno Latour) zwischen Mensch und Computer unter den Schutz der Verfassung stellt.

Olivier Voirol – Digitales Selbst: Anerkennung und Entfremdung

Olivier Voirol (Uni Lausanne/IfS Frankfurt) plädiert dafür, die digitale Erweiterung unseres Selbst nicht in bloß technischen Begriffen, sondern auch aus der Perspektive einer intersubjektiven Theorie der Identitätsbildung heraus zu analysieren. Im Anschluss an Georg Herbert Mead entwickelt ein solches Konzept des »digitalen Selbst«. Damit lässt sich auch zeigen, unter welchen Bedingungen sich im Netz gelingende Anerkennungsbeziehungen herausbilden, und wo uns unser digitales Selbst eher als etwas Fremdes und potentiell Feindliches gegenübertritt.

Kai Dröge – Romantische Unternehmer im Netz

Schließlich gibt es auch noch einen Beitrag von mir, der sich mit Online Dating befasst und fragt, welche Identitätsangebote uns das Internet im Bereich von Liebe und Partnerschaft macht. Ich zeige an Ausschnitten aus unseren Interviews, wie sich Akteure trotz des Fehlens der leiblich-sinnlichen Kopräsenz durchaus als »romantische« Subjekte begreifen, die erstaunliche Erfahrungen von Intimität und Nähe im Netz machen. Gleichzeitig werden sie aber auch als »unternehmerische« Akteure angesprochen, die sich rational im Hinblick auf die Optimierung ihres Beziehungslebens verhalten sollen. Aus dem Aufeinandertreffen dieser beiden Identitätsangebote resultieren Spannungen im eigenen Selbstentwurf, die sich praktisch schwer auflösen lassen.

Differenzierte Kritik

Allen Beiträgen gemeinsam ist, dass sie weder einer rein kulturpessimistischen Sichtweise folgen, die eine Auflösung des Selbst in den virtuellen Welten des Internets diagnostiziert, noch einer durchgängig optimistischen Perspektive, die allein die neuen Selbstentfaltungspotentiale in diesem Medium feiert.
Wann erlauben uns die digitalen Interaktionen erweiterte Anerkennungsbeziehungen und wann entfremden sie uns von uns selbst (Voirol)? Wo ermöglichen uns die Erfahrungen von Intimität und Nähe im Netz einen positiven Selbstbezug und wo werden sie trügerisch und potentiell gefährlich (Dröge)? Unter welchen Bedingungen können die virtuellen Spielewelten zu einem Raum werden, in dem wir neue Facetten unserer Identität entdecken und ausprobieren, und wann drohen wir uns in diesen Welten zu verlieren (Turkle)? Welche neuen Risiken gehen mit der digitalen Erweiterung unserer Identität einher und wie lässt sich der grundrechtliche Schutz der Persönlichkeit diesen gewandelten Bedingungen anpassen (Karavas)?
Nur mit einer solch differenzierten Analyse lassen sich auch die problematischen Tendenzen der sozialen, politischen und ökonomischen Nutzung des Internets fundiert kritisieren, die zu Formen der Entfremdung, Instrumentalisierung und Vermarktlichung des Selbst führen können.

Weitere Beiträge:
Neben dem Schwerpunkt enthält diese Ausgabe von WestEnd noch Beiträge von Claus Offe, Juliane Rebentisch, Helmut Thome, Gertrud Hardtmann, Robert E. Norton und Sidonia Blättler

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